Abgastester Besch, Thiruvengadam, Kappanna: Abends ein paar Burger auf den Grill
Arvind, Hemanth und Marc, zwei Inder und ein Schweizer, waren eigentlich nur zum Studieren in die USA gekommen. Arvind Thiruvengadam aus Madras, Hemanth Kappanna aus Bangalore und Marc Besch aus Biel. Es hatte sie in den Bundesstaat West Virginia verschlagen, nicht gerade der Ort, von dem man in Madras oder Bangalore träumt, wenn man in die USA zieht. Wahrscheinlich noch nicht mal in Biel.
Der West Virginia University angeschlossen ist ein Institut für Emissionsforschung. Auch das ist nicht unbedingt die Fachrichtung, von der man träumt, wenn man um die dreißig ist und eine Karriere als Autoingenieur anstrebt. Das Institut nennt sich Center for Alternative Fuels, Engines and Emissions, kurz CAFEE, es befindet sich in einer unscheinbaren Blechhalle auf einer Lichtung in den Hügeln West Virginias, im Nirgendwo. Der nächstgrößere Ort heißt Morgantown, die nächstgrößere Stadt, die man kennen könnte, ist Pittsburgh.
Arvind, Hemanth und Marc fingen hier an, Abgase zu messen, erst an Lastwagen, dann an Personenwagen, bis sie versehentlich einen Skandal aufdeckten, dessen Folgen den damals größten Autohersteller der Welt an die Grenze seiner Existenz getrieben haben. Rund 25 Milliarden Euro, vor allem wegen Rückkäufen und Strafzahlungen aus Vergleichsverhandlungen, haben die Abgastests von Hemanth, Arvind und Marc den Volkswagen-Konzern bis heute gekostet - und ein Ende ist nicht in Sicht.
Wegen einer Studie der drei Studenten stehen ehemalige deutsche VW-Manager heute auf FBI-Fahndungslisten, einer konnte in den USA verhaftet werden, andere sitzen in Deutschland in Untersuchungshaft. Ein deutscher Politiker nannte die Dieselaffäre den "größten Industrieskandal seit dem Zweiten Weltkrieg".
Marc und Arvind parken ihre Wagen vor der Blechhalle. Arvind kommt in einem BMW mit zwei fetten Auspuffrohren, Marc in einem alten Diesel-Jeep, Hemanth kommt vom Flughafen.
Sie sind an diesem Spätsommertag für den SPIEGEL noch einmal zusammengekommen, hier in der Halle auf einer Lichtung im Wald, wo alles begonnen hat. Vier Jahre ist es jetzt her, da haben sie angefangen, die Abgaswerte von zwei VW-Dieselautos zu testen. Viel hatten sie sich dabei nicht gedacht.
Große Karrieresprünge haben sie seitdem nicht gemacht. Marc, jetzt 34 Jahre alt, hat heute eine Assistentenstelle in der Forschung, in seiner Multifunktionskleidung sieht er aus, als wollte er gleich einen Schweizer Alpengletscher hochrennen. Arvind, 34 auch er, der inzwischen den Titel "Research Assistent Professor" führen darf, trägt eine dunkle Anzughose sowie ein graues Businesshemd und wirkt nicht wie ein Abgasspezialist, eher wie ein südasiatischer IT-Manager. Nur Hemanth, 39, mit seinem dichten schwarzen Bart, ist auf die andere Seite gewechselt, zur Industrie. Er hat jetzt einen Job bei General Motors in Detroit. Die anderen beiden ziehen ihn damit manchmal ein bisschen auf.
Zu Stars geworden sind die drei höchstens in Abgastesterkreisen, aber sie stören sich nicht an der Bescheidenheit ihres Ruhms. "Wir werden auf Konferenzen mit Namen angesprochen", sagt Marc, immerhin. Und Hemanth erinnert daran, dass sie alle drei am Wochenende in der Halbzeitpause des Footballspiels West Virginia Mountaineers gegen Texas Tech als herausragende Ehemalige der Universität geehrt werden sollen. Und Arvind fällt ein, dass sie Mitte Oktober auf einen Fachkongress in Berlin eingeladen sind.
Ihr Chef, der Leiter des Labors, Dan Carder, wurde vergangenes Jahr von der Zeitschrift "Time" auf die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt gesetzt, wegen seiner Rolle im Dieselskandal. Auch er ist heute gekommen, aber er hält sich im Hintergrund, er will seine Jungs nicht überstrahlen. Auch für sie ist es ein großes Wiedersehen, sie wissen, dass der VW-Skandal auch ihre Biografien für immer verbunden hat. Am Abend wollen sie ein paar Hamburger auf den Grill legen und sich in einer Sportsbar des Studentenkaffs Morgantown ein paar Biere reinkippen.
Im Video: VW-Abgasskandal - "Eigentlich nur zum Spaß" SPIEGEL-Redakteur Philipp Oehmke über drei Studenten in einer Blechhütte in Virginia, die mit ihrer Entdeckung den VW-Abgasskandal ins Rollen brachten - ohne es zu wissen.
Kulturell hätten sich die beiden Inder, Hemanth Kappanna und Arvind Thiruvengadam, nicht weiter von ihrer Heimat entfernen können. West Virginia ist in den USA für seine Wälder bekannt, die große Heroinepidemie in den Städten und seine rustikalen Einwohner, die sich selbst Hillbillys nennen, Hinterwäldler. Nicht bekannt ist West Virginia hingegen für Umweltschutz. Ein beliebtes Hobby hier nennt sich "Rolling Coal": Man baut aus seinem Diesel-Pick-up-Truck alle Partikelfilter aus, fährt den Truck in die nächstgrößere Stadt, wartet, bis der erste Prius- oder Fahrradfahrer auftaucht, gibt Vollgas und hinterlässt das Opfer in einer Rußwolke. Das ist so der Humor in West Virginia.
Auch Hemanth, Arvind und Marc machen ihren Job nicht aus ideologischen oder ökologischen Gründen. Sie sind Maschinenbauer. Wenn man als Maschinenbauabsolvent in der Autobranche arbeitet, kann man viele interessante Jobs machen: aus Motoren mehr PS-Leistung rauskitzeln, an der Aerodynamik der Chassis feilen, noch kraftvollere Turbolader entwickeln oder an Elektroautostudien arbeiten.
Oder man erhält die Aufgabe, sich darum zu kümmern, dass die Abgase nicht zu schädlich sind. Dann hat man mit Dingen wie Dieselpartikelfilter, Katalysatoren, Stickstoffreduktion und Harnstoffeinspritzungsverfahren zu tun. So wie Hemanth, Arvind und Marc. Eigentlich seien sie Autofreaks, sagen sie, Tüftler, Fummler, Schrauber. Marc, Sohn eines Opel-Händlers in der Schweiz, hat sich selbst einen Diesel-Jeep hergerichtet, der, so wie er aussieht, wahrscheinlich nicht so gute Emissionswerte hat. Auch Dan Carder, der Chef, baute schon in der Pubertät seine ersten eigenen Pick-ups um. Eigentlich wollten Hemanth, Arvind und Marc nie in der Abgastechnologie landen.
"Vehicle & Engine Testing Laboratory" steht außen an ihrer Blechhalle zwischen den bewaldeten Hügeln. Die Halle gehört zur Fakultät für Maschinenbau der West Virginia University und ist das Herz des Instituts. Innen befinden sich mehrere Abgastestanlagen. Silberne Metallrollen sind in den Boden eingelassen, auf die die Autos gestellt werden, damit sie fahren können, ohne zu fahren. Riesige Ventilatoren sorgen für den Fahrtwind, Schläuche aller Größen und Farben führen in verchromte, verkabelte Schränke mit Messarmaturen, in manchen Ecken ist ein Motor aufgebockt. Es riecht, nun ja, nach Abgasen.
Hier saß Hemanth Kappanna an einem düsteren Novembertag im Jahr 2012, als die Ausschreibung vom International Council of Clean Transportation (ICCT) reinkam. Die Organisation kümmert sich um technische und wissenschaftliche Analysen, die sie den Umweltaufsichtsbehörden zur Verfügung stellt. Diesmal suchte das ICCT Tester, die die sogenannte Clean-Diesel-Technologie deutscher Autohersteller untersuchen.
Sauberer Diesel. Ach, echt? "Ein solcher Begriff hat uns als Abgasnerds natürlich fasziniert. Er hatte eine gewisse Ambivalenz", sagt Hemanth.
Anders als in Deutschland hatte der Volkswagen-Konzern in den USA seine VW- und Audi-Dieselfahrzeuge in aufwendigen Werbespots als besonders umweltfreundlich vermarktet. In einem berühmten Fernsehspot von Audi, der zur teuersten Sendezeit des Jahres lief, nämlich während des Superbowls, war zu sehen, wie die USA von einer Ökopolizei terrorisiert werden. Auf den Straßen Staus, die Ökopolizei hält alle Autos an. Nur ein sauberer weißer Audi-Diesel darf aus der Schlange ausbrechen und mit Vollgas wegrasen. Ein VW- oder Audi-Diesel, so behauptete die Werbung damals, habe genauso gute Verbrauchs- und Emissionswerte wie Toyotas Elektro-Hybrid-Schlager Prius, aber natürlich viel bessere Motor- und Fahrleistungen.
Das große Problem beim Dieselmotor war nicht wie bei Benzinantrieben der CO2-Ausstoß, sondern der von Stickoxiden. Und in den USA war wesentlich weniger Stickoxid erlaubt als in Europa. Allerdings gab es Technologien, die es ermöglichten, die Emissionen so zu reduzieren, dass sie auch den US-Normen entsprachen. Das allerdings brachte an anderer Stelle große Nachteile - dazu später mehr.
Volkswagen wollte Toyota endgültig überholen und weltweit der Autohersteller Nummer eins werden. Dafür war auch der US-Markt wichtig. Toyota war in Amerika mit seinen Hybridautos sehr erfolgreich. Die Clean-Diesel-Strategie sollte sie verdrängen, das Kalkül war: Wenn VW sich mit seinen Dieselautos in den USA schon so strengen Abgasnormen unterwerfen musste, könnte der Konzern aus der Not auch eine Tugend machen und seine Turbodieselmotoren als "green" und besonders umweltschonend verkaufen.
"Es war nicht so, dass ein Verdacht bestand, im Gegenteil", erinnert sich Arvind. "Wir waren einfach sehr neugierig. Diese Ökotechnologien waren ziemlich neu. Wir wussten, dass sie auf dem Papier funktionierten. Aber sie waren in Pkw noch nie unter Realbedingungen auf Abgase getestet worden." Als die Ausschreibung vom ICCT reinkam, wusste Hemanth, dass sie gute Chancen hatten, den Zuschlag zu bekommen. Das Institut der West Virginia University hatte viel Erfahrung mit Abgastests von Dieselmotoren, wenn auch bisher nur mit Lkw.
Und sie hatten eine weitere Stärke, von der sie aber gar nicht ahnten, wie entscheidend sie sein würde: Sie verfügten über mobile Messgeräte, die sie teils selbst gebaut hatten und mit denen sie Abgasmessungen unter realen Fahrbedingungen auch über längere Strecken durchführen konnten. Normalerweise wurde ein Auto für einen Emissionstest in einer Garage bloß auf Rollen gestellt und die Fahrt simuliert. Es war unüblich, mit mobilen Messgeräten Passagierfahrzeuge auf längeren Fahrten zu testen. Hemanth wusste nicht einmal, wie ihre Apparate in einen Pkw passen sollten. Es war diese Art von neuartigen Tests - auf der Straße statt im Labor -, mit der bei VW offenbar niemand gerechnet hatte. Erst die mobilen Messungen ermöglichten es, die Tricks der Autobauer zu enttarnen.
Institutschef Carder: Ein interessantes technisches Problem
Hemanth fing an, am Computer zu rechnen. Er kalkulierte, dass sie bei einem Budget von 200.000 Dollar wohl drei oder vier deutsche Dieselwagen und ihre Emissionstechnik durchleuchten könnten. Sie bekamen den Job, allerdings wurden die 200.000 auf 70.000 Dollar gedrückt.
Die deutschen Autohersteller wendeten hauptsächlich zwei Verfahren an, um die Stickoxidemission zu senken. Eine sogenannte Lean-NOx-Trap und den SCR-Katalysator. Beide reduzieren Stickoxid, haben aber auch gewichtige Nachteile.
Das ist ziemlich kompliziertes Zeug, aber Hemanth, Arvind und Marc reden darüber wie andere Leute über Fußball. Sie fallen sich ins Wort, beenden die Sätze füreinander. Auch das ist letztlich ihre Schuld: dass die Welt in den vergangenen Jahren Begriffe lernen musste wie "Harnstofftank", "Betrugssoftware" und "AdBlue", die seither in Hunderten Artikeln und in Büchern stehen.
Wenn man die drei richtig verstanden hat, geht alles ungefähr so: Der SCR-Katalysator spritzt Harnstoff in den Abgasstrom und zerlegt so Stickoxide in Sauerstoff und harmlosen Stickstoff. Der Nachteil: Die Autos müssen mit einem weiteren Tank für die Harnstofflösung, AdBlue genannt, ausgestattet werden. Der Tank braucht kostbaren Platz und muss je nach Größe zudem alle paar Tausend Kilometer nachgefüllt werden. Wer für ein Auto 70.000 Dollar zahlt, hat auf so etwas möglicherweise keine Lust.
Die zweite Methode ist weniger effizient, braucht dafür aber keinen AdBlue-Tank. Die NOx-Trap fängt den Stickstoff in einer Kammer ein. Wenn die Kammer voll ist, wird eine erhöhte Menge Kraftstoff hinzugegeben, der die Kammer reinigt und die eingeschlossenen Stickoxide als Stickstoff ausspült. Der Nachteil: Diese Technik funktioniert nur bei ausreichend hoher Temperatur und einem erhöhten Kraftstoffverbrauch.
Marc, Arvind und Hemanth sahen darin eine Menge interessante technische Probleme. Wie also hatten die deutschen Autohersteller sie gelöst? Der Auftrag verlangte, dass Hemanth, Arvind und Marc Wagen mit beiden Technologien, SCR und NOx-Trap, testeten. Aber wo sollten die Autos herkommen? Arvind rief bei Volkswagen in Michigan an, doch VW sah keinen Grund, seine Fahrzeuge einem Haufen Studenten zur Verfügung zu stellen. Autovermietungen in West Virginia führten keine Diesel-Pkw, auch auf Anzeigen, die sich an Privatbesitzer wendeten, reagierte niemand.
Die Studenten beschlossen, die Operation nach Kalifornien zu verlegen. Marc und Arvind hatten dort ohnehin gerade an den Trucks gearbeitet, und sie hatten gute Beziehungen zur dortigen Emissionsbehörde, dem California Air Resources Board (CARB).
Aber vor allem gab es in Kalifornien die Autos. Volkswagens Kampagne vom Clean Diesel hatte bei den Bürgern in den liberalen Staaten an den Küsten Resonanz gefunden, außerdem gab es alle Arten von Autovermietungen, sogar eine für umweltbewusste Kunden.
Pkw bei der Emissionsprüfung im CAFEE in West Virginia: Sauberer Diesel - ach, echt?
Bei Green Car Rentals mieteten sie einen VW Jetta 2.0 TDI, bei Exotic Cars San Jose eine BMW X5 3.0d und von einem Privatmann einen VW Passat 2.0 TDI. Der Jetta hatte die NOx-Trap, der Passat das SCR-System und der X5 hatte beide Technologien. Eigentlich sollte auch noch ein Mercedes getestet werden. Doch der Besitzer, ein Hollywoodstudiotyp, wollte plötzlich zu viel Geld. Mercedes sollte ihm wahrscheinlich sehr dankbar sein.
Als sie den Passat von dem Privatmann abholten, fragte Marc Besch den Besitzer nach dessen Erfahrungen mit dem Harnstofftank. Ob er den häufig nachfüllen müsse und ob ihn das nerve. Doch der Besitzer wusste gar nichts von einem Harnstofftank. Nachfüllen? Womit? Nie gehört, sagte er.
"Das hätte uns stutzig machen können, bevor wir überhaupt den ersten Test durchführten", sagt Marc.
"Hat es aber nicht", sagt Hemanth.
Sie brachten die Wagen nach El Monte bei Los Angeles, wo die kalifornische Emissionsbehörde CARB ein unscheinbares Testlabor betrieb, mit Stacheldraht umzäunt. Alle drei Autos bestanden locker. Alle Stickoxidwerte blieben unter den strengen kalifornischen Richtlinien. So weit die Ergebnisse unter Laborbedingungen: keine Auffälligkeiten.
Mit den Tests auf der Straße, die sich als entscheidend erweisen sollten, war es komplizierter. Das Problem fing schon bei der Stromzufuhr an. Die Emissionsmesser brauchten viel Strom, und sie konnten ja nicht einfach ans Stromnetz des Autos angeschlossen werden, das hätte die Ergebnisse verfälscht. Es gab batteriebetriebene Messgeräte, doch die Batterie hielt noch nicht mal eine Stunde.
Die Studenten gingen in einen Baumarkt und kauften Benzingeneratoren, die sie auf Spanplatten in die Kofferräume dübelten. Die Generatorabgase leiteten sie in einem Schlauch notdürftig durchs Fenster nach draußen. Man konnte sich nun in dem Auto nicht mehr unterhalten, es war zu laut. Die Generatoren mussten ständig nachgetankt werden. Die Rückbank voller Messgeräte, auf dem Beifahrersitz einer der Studenten mit dem Laptop, ein anderer fuhr.
Sie begannen mit einer mehrstündigen Route in und um Los Angeles. Stadtverkehr, Highway und den Mount San Antonio hoch. Der Stickoxidausstoß des VW Jetta war bis zu 35-mal höher als erlaubt. Der Passat mit dem SCR-System schnitt ein bisschen besser ab, aber auch seine Werte waren noch um die 20-mal so hoch. Nur der BMW zeigte keine relevanten Abweichungen.
Arvind, Hemanth und Marc hielten dies weiterhin für ein wirklich interessantes Problem.
Sie bauten ihr Equipment auseinander, suchten den Fehler bei ihren Messgeräten. Sie inspizierten die Motoren, es waren ja nicht nur die viel zu hohen Werte, das gesamte Verhalten der beiden VW erschien sonderbar. Normalerweise sinken die Schadstoffemissionen, sobald der Motor warmgelaufen ist. Nicht so bei den VW.
Sie machten größere Touren mit den Wagen, nach San Diego, San Francisco. Arvind und Marc prügelten den Passat die Küste hoch bis nach Seattle und zurück, knapp 6000 Kilometer. Mit ihren Schläuchen am Auspuff, dem Generator im Kofferraum waren sie ein seltsamer Anblick auf der I-5, der Interstate zwischen San Diego und Seattle, dazu der Lärm des Generators im Kofferraum. In der Nähe von San Francisco stellte die Highway Patrol verständnislose Fragen zu den Schläuchen am Auspuff, als Marc und Arvind an einer Ausfahrt gerade versuchten, ihre Geräte zu rekalibrieren. Die erste Nacht verbrachten sie auf dem Parkplatz eines Baumarktes in Oregon und mühten sich ab, den Generator wieder zum Laufen zu bringen. Wenn sie mal Pause machten, besuchten sie das Boeing-Museum, das auf der Route liegt, und deckten sich im Souvenirshop ein. Abends im Hotelzimmer kochte Arvind für die anderen.
Hemanth, der Älteste der drei, machte sich manchmal über den Eifer der jungen Kommilitonen lustig. Marc wollte nie aufhören zu arbeiten, er hatte ein Arbeitsethos, wie Hemanth es nicht kannte. Hemanth war überzeugt, dass die gleichen Abgase am nächsten Tag immer noch da sein würden und sich sicher auch dann noch kontrollieren ließen. Und Arvind bekam immer, was er sich vornahm. Alle drei Testautos hatte er allein ausfindig gemacht.
Einen Verdacht hatten alle drei trotzdem noch nicht.
Sie wussten von der Existenz sogenannter Defeat Devices, versteckter Software, die erkennt, wenn ein Wagen im Labor einem Test unterzogen wird. Die Räder drehen sich dann, doch das Lenkrad bleibt unbewegt. Geschwindigkeiten treten in bestimmten Intervallen auf, und nach 20 Minuten ist es meist vorbei. Für diese Zeit schaltet die Software die Abgastechnologien an, dann regelt sie sie wieder runter.
Mehrere große Lkw-Hersteller hatten ein paar Jahre zuvor Defeat Devices eingesetzt und waren erwischt worden. Die Studenten, die viele Tests an Lkw durchgeführt hatten, wussten das. Aber jetzt kam ihnen nicht in den Sinn, dass eine solche Betrugssoftware die Lösung sein könnte für ihre rätselhaften Zahlen. Sie waren Fahrzeugtechniker, keine Kriminalisten.
Gebäude des Testlabors in West Virginia: Keiner hatte Lust, die Studie zu schreiben
Also suchten sie nach anderen möglichen Erklärungen, am wahrscheinlichsten schien ihnen ein versehentlicher Fehler in den Abgassystemen. Dan Carder, ihr Boss, sagt: "Das hielt ich für am wahrscheinlichsten. Ich dachte, VW muss vielleicht eine Rückrufaktion starten, die Sache würde sie vielleicht ein bisschen Geld kosten." Nach einigen Wochen gab es nichts mehr zu testen. Die Ergebnisse änderten sich nicht. Hemanth, Arvind und Marc fuhren nach Hause.
Dort mussten sie die Ergebnisse analysieren und eine Studie schreiben. Keiner hatte Lust dazu. Es gab keine richtige Erklärung, und alle hatten neue Projekte, die sie spannender fanden. Die Zahlen verschwanden erst mal in der Schublade.
Endlich, nach einem halben Jahr, setzte sich Marc Besch an die Studie. Als sie fertig war, umfasste sie 117 Seiten und trug den Titel "In-Use Emissions Testing of Light-Duty Diesel Vehicles in the United States".
Im März 2014 präsentierte Marc die Studie auf einem Kongress in San Diego. Da stand er in einem Saal des Hyatt Regency, 200 Leute waren gekommen. Ölindustrie, Autohersteller, aber auch Vertreter der Regulierungsbehörden. Und es saßen dort die Abgesandten von VWs Compliance-Abteilung, das waren die Männer, die dafür zuständig waren, dass VW in den USA alle Bestimmungen einhält.
Marc hatte sich bei der Präsentation nicht viel gedacht, er war nur froh, dass er sie rechtzeitig hatte fertigstellen können. Die Autotypen waren in ihr nicht identifiziert, die Rede war bloß von Vehicle A, Vehicle B und Vehicle C.
In der anschließenden Pause begann unter den Anwesenden ein Ratespiel, um welche Autos es sich wohl handelt. Für jemanden, der sich auskannte, war es nicht schwierig, aus der Kombination der Motorentypen und der eingesetzten Abgastechnologie auf die tatsächlichen Autos zu schließen. Vehicle A und Vehicle B mussten Volkswagen sein.
Auch ein Mann namens Alberto Ayala hatte die Präsentation verfolgt. Er war der Vizechef der kalifornischen Aufsichtsbehörde CARB, auch er hat früher an der West Virginia University gelehrt. Er kannte Dan Carder seit 20 Jahren, er hatte während der Tests das CARB-Labor in El Monte zur Verfügung gestellt, er wusste von den Testergebnissen, er wusste, dass Studien, die aus Carders Institut kommen, verlässlich sind.
Im Winter 2013, noch vor der Präsentation in San Diego, war er sogar nach Wolfsburg gereist und hatte den VW-Leuten von den merkwürdigen Zahlen der Studenten berichtet.
Nachdem Marc Besch, Arvind Thiruvengadam und Dan Carder nach der Konferenz nach Hause gefahren waren, nahm alles seinen Lauf. In der kalifornischen Aufsichtsbehörde wurde ein Team aus Experten zusammengestellt. Man begann, VW mit Dieselmotor von Privateigentümern in ganz Kalifornien auf Herz und Nieren zu prüfen. Und auf Harnstoff.
Aus den paar Zahlen, die Arvind, Hemanth und Marc gesammelt hatten, wurde etwas anderes, Größeres. Es ging jetzt um Fragen der Gesundheitsschädigung, der Körperverletzung. Bronchitis, Lungenerkrankungen und Herzprobleme hängen alle mit Stickoxiden zusammen. Stickoxide, die aus einem Auspuff kommen und auf Sonnenlicht treffen, werden zu Smog.
Gerade in Kalifornien, wo auf 39 Millionen Einwohner 25 Millionen Autos kommen und an den meisten Tagen die Sonne scheint, ist der Stickoxidausstoß ein besonders sensibles Thema. Deswegen sind die Abgasbestimmungen in Kalifornien so streng. Und anders als in Deutschland werden Verstöße in Kalifornien verfolgt, dafür hat Ayalas Behörde CARB gesorgt. Die Ermittler verlangten bald nach Erklärungen von VW. Der Rest ist Geschichte.
Am Institut CAFEE der West Virginia University in der Blechhalle auf der Waldlichtung war das Leben nach Marc Beschs Präsentation in San Diego zunächst weitergegangen, als wäre nichts geschehen. Die Ermittlungen der Kalifornier waren geheim, lange Zeit wussten die drei Studenten also überhaupt nicht, dass ihre Testergebnisse umfassende Untersuchungen gegen VW ausgelöst hatten.
Hemanth, Arvind und Marc waren in jener Zeit damit beschäftigt, ihre mobile Abgasmessmethode weiter zu verfeinern. Da sich das Konzept mit den Generatoren im Kofferraum als eher mühsam erwiesen hatte, probierten sie jetzt, die Apparate auf Anhängern hinter den Testwagen herzuziehen, doch das schuf nur neue Probleme. Luftverwirbelungen, verändertes Fahrverhalten, komplizierte Anhängerkupplungen.
Sie wollten als Team zusammenbleiben, aber dann ging Hemanth nach Detroit. Auch Marc hatte ein Angebot von General Motors, doch er wollte in der Forschung weitermachen. Arvind und Marc rückten noch näher zusammen, die Beziehung wurde, wie Marc sagt, "fast wie unter Brüdern". Wenn einer von beiden eine Studie verfasste, war der andere stets Mitautor.
Als am 18. September 2015 die US-Umwelt-Bundesbehörde EPA die Welt über den VW-Betrug informierte, hatten Hemanth, Arvind und Marc schon lange nicht mehr an Volkswagen gedacht.
Moralische Empörung hängt ab von den Ansprüchen, die man stellt. Die drei waren vor allem froh, dass es endlich eine Erklärung für ihre Ergebnisse gab. Und dass ihre Zahlen gestimmt hatten. Hemanth, Arvind und Marc hatten Präzisionsansprüche an ihre eigenen Zahlen, aber keine Moralansprüche an den Volkswagen-Konzern. Sie waren nicht empört. Die Technologie, sagen sie, sei eigentlich faszinierend gewesen.
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