Krankenhausmitarbeiter einer Klinik in Kalkutta bringen Sauerstoffflaschen zum Nachfüllen.
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In Indien herrscht dramatischer Sauerstoffmangel. Die angespannte Lage in der Pandemie rückt eine Industrie ins Zentrum, die sonst im Hintergrund agiert. Wie groß ist der Markt, welche Bedeutung hat das Geschäft mit der Luft und warum hat Deutschland so viel und Indien so wenig?
In Indien ist ein wahrer Kampf entbrannt um rare Flaschen mit medizinischem Sauerstoff. Die Corona-Zahlen schossen rapide in die Höhe, die Intensivstationen füllten sich - und bald war nicht mehr genug medizinischer Sauerstoff für alle Patienten da. Es herrscht dramatischer Sauerstoffmangel in Indien. Rund um die lebensrettenden Flaschen hat sich ein ganzer Schwarzmarkt etabliert, auf dem ein Vielfaches des üblichen Preises verlangt wird. Wer die Chance bekommt, zahlt aber meistens ohne mit der Wimper zu zucken. Es gibt schlicht keine Alternative.
Polizisten bewachen Container mit flüssigem medizinischem Sauerstoff (LMO), nachdem ein Sauerstoff-Express an einem Bahnhof in Bangalore angekommen ist.
Die angespannte Lage in Indien hat eine Industrie ins Zentrum gerückt, die sonst eher im Hintergrund agiert: die Sauerstoffproduktion. Sauerstoff wird in Krankenhäusern gebraucht, aber auch in verschiedenen Industriezweigen. "Er kommt auch häufig als Flaschensauerstoff beim Schweißen und Brennschneiden zum Einsatz", sagt Stephen B. Harrison, Geschäftsführer bei der Unternehmensberatung sbh4 und Experte für Industriegase. Im großen Stil werde der Stoff in der Schwerindustrie wie der Stahlherstellung oder in Raffinerien eingesetzt.
Hier ist Deutschland besonders gut aufgestellt. "In Ländern mit einer hohen industriellen Aktivität ist der Markt für Sauerstoff groß", sagt Harrison. Wo immer Stahlherstellung und Raffinerien verbreitet seien, werde viel Sauerstoff gebraucht - und auch hergestellt. Mit der Herstellung von Industriegasen wird in Deutschland jährlich 2,6 Milliarden Euro Umsatz gemacht.
Hergestellt wird Sauerstoff in hoch spezialisierten Fabriken, die viel Strom benötigen. Zunächst werde die Luft eingesaugt und dann weiterverarbeitet, sagt Harrison. "In diesem Prozess wird die gasförmige Luft zu flüssiger Luft und diese wird dann aufgeteilt in Sauerstoff, Stickstoff und Argon", sagt er. Jedes der Gase werde dann für verschiedene Zwecke benutzt. Der Sauerstoff werde entweder in Pipelines zu großen Abnehmern in der Nähe befördert, wie Stahlwerken und Öl-Raffinerien, oder in flüssiger Form mit Lastern ausgeliefert. Für Krankenhäuser werde gasförmiger Sauerstoff auch in Flaschen abgefüllt. Krankenhäuser, so erklärt Harrison, könnten Sauerstoff auch selbst mithilfe von speziellen Geräten herstellen, indem Luft zu medizinischem Sauerstoff aufgereinigt werde.
Zu den Weltmarktführern auf dem Sauerstoffmarkt gehören Air Liquide und Linde. Das französische Unternehmen Air Liquide ist laut eigenen Angaben "Weltmarktführer bei Gasen, Technologien und Services für Industrie und Gesundheitswesen". Das Unternehmen beschäftigt mehr als 60.000 Angestellte in fast 80 Ländern. Der Konzern kam im vergangenen Jahr auf einen Umsatz in Höhe von rund 20,5 Milliarden Euro Umsatz. Linde fusionierte 2018 mit dem US-Konkurrenten Praxair und wurde damit zum weltweit größten Anbieter von Industriegasen. Linde erlöste im vergangenen Jahr 27,2 Milliarden US-Dollar.
Bei Linde macht sich die Corona-Pandemie und der damit verbundene Anstieg des Sauerstoffbedarfs bereits in den Geschäftszahlen bemerkbar: Der Umsatz der Gesundheitssparte, zu der auch der medizinische Sauerstoff zählt, legte im ersten Quartal um zehn Prozent zu.
In Deutschland sei es kein Problem, die steigende Sauerstoff-Nachfrage zu befriedigen, sagt Harrison - trotz der hohen Anforderungen an medizinischen Sauerstoff. Der muss eine besondere Reinheit aufweisen und gilt als Arzneimittel. "Wir stellen genug Sauerstoff für die Industrie her. Wenn wir in den dafür vorgesehenen Fabriken nur etwas mehr Sauerstoff produzieren und zu medizinischem Sauerstoff machen, können wir die Nachfrage der Krankenhäuser erfüllen", sagt er.
In Ländern wie Indien oder Brasilien sei das anders. Solche Länder seien weniger industrialisiert. Pro Einwohner würde dort dementsprechend weniger Sauerstoff produziert. Aber die geringere verfügbare Sauerstoffmenge ist nicht das einzige Problem. Das andere ist die Logistik, denn auch die gestaltet sich in Indien deutlich schwieriger: Dort gebe es sehr unterschiedliche geografische Gegebenheiten und verschiedene gesetzliche Vorgaben für den Transport in jedem Bundesstaat, sagt Harrison. Doch es gebe auch viel Kreativität, so habe die Regierung zum Beispiel Transportmethoden erlaubt, die zuvor verboten gewesen seien.
Harrison hofft, dass die Nachfrage nach medizinischem Sauerstoff sich bald wieder normalisiert. "Auf lange Sicht wird das Wachstum in entwickelten Ländern wie Deutschland vor allem aus neuen Anwendungen wie der Herstellung von blauem Wasserstoff als sauberer Energieträger stammen", sagt er. In Entwicklungsländern wie Indien seien diverse Faktoren ausschlaggebend für das zukünftige Wachstum der Sauerstoffnachfrage: das Bevölkerungswachstum, die Steigerung der industriellen Aktivitäten und ein größerer Zugang zur medizinischen Versorgung.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Capital.de.