Jahrelanges Warten auf Operationen, ein immer größer werdender Mangel an Allgemeinärzten: Der Zustand des britischen Gesundheitsdienstes NHS ist alarmierend. Im Fokus steht vor allem der Rettungsdienst.
Als der 18 Jahre alte Jamie Rees aus der Nähe von Birmingham in der Silvesternacht einen plötzlichen Herzstillstand hat, wählen seine Freunde den Notruf. Aber es dauert viel zu lange, bis der Rettungswagen da ist - fast doppelt so lange wie die Richtlinie des Gesundheitsdienstes NHS es für solche Notfälle vorsieht. Jamie stirbt Tage später im Krankenhaus. In der BBC erzählt seine Mutter von ihrem Schmerz:
Es ist ein Teufelskreis, der auch jene belastet, die Leben retten wollen: Claire Pullan, die als Rettungssanitäterin im Nordwesten Englands arbeitet, steht immer stundenlang vor dem Krankenhaus, bevor sie Patienten übergeben und zum nächsten Einsatz fahren kann. "Viele müssen sehr lange auf uns warten. Wer allein ist, hat Angst, und auch für Angehörige ist das schlimm", sagt sie. "Aber wir können nichts daran tun. Auch wenn es unser Fehler ist. Alles was ich tun kann, ist mich zu entschuldigen, wenn ich da bin und loslegen."
Angesichts der Personalnot im britischen Gesundheitssystem schickt die Armee 200 Soldaten in Londons Krankenhäuser.
Bei Herzinfarkten oder Schlaganfällen soll ein Rettungswagen eigentlich innerhalb von 18 Minuten beim Patienten sein. Aber vom NHS selbst veröffentlichte Zahlen zeigen: Sie brauchen derzeit im Durchschnitt 40 Minuten. Im Südwesten Englands sogar durchschnittlich fast eine Stunde.
In einer Umfrage der Gewerkschaft GMB, die auch Rettungspersonal vertritt, gaben 85 Prozent der Befragten an, dass sie schon einmal Zeuge von Verspätungen waren, die für die Patienten negative Folgen hatten. Für Demi Leigh O'Leary, die in einer Zentrale telefonisch die Notrufe entgegennimmt, ist das schon trauriger Alltag:
Sollte die Steuererhöhung umgesetzt werden, würde Johnson damit eines seiner Wahlversprechen brechen.
Pullan und O'Leary kommen in einer Dokumentation auf dem Fernsehsender ITV vor - der NHS selbst hatte dem Kamerateam die Türen geöffnet, um die eigene Überlastung zu erklären. Denn auch in den Korridoren von Krankenhäusern geht das Warten weiter, stundenlang. Es sind einfach keine Betten frei.
Die Gründe dafür lägen auch außerhalb des Krankenhauses, sagt Sarah Scobie vom Nuffield Trust, einer Stiftung, die die Gesundheitsversorgung im Vereinigten Königreich analysiert. "Die Hälfte oder sogar weniger als die Hälfte der Menschen, die gesund genug sind, um entlassen zu werden, können auch entlassen werden", sagt sie. Denn es fehle an Plätzen in Pflegeheimen oder sozialen Pflegediensten in den Gemeinden.
Mit mehr als 53.000 Neuinfektionen an einem Tag haben die britischen Behörden einen Höchstwert gemeldet.
Die Pandemie sowie eine alternde Bevölkerung belasten das System - und die größte Personalkrise in der Geschichte des NHS. Letzteres war Ende Juli das Fazit des parlamentarischen Gesundheitsausschusses im Londoner Unterhaus. Allein in England fehlen demnach 12.000 Krankenhausärzte und mehr als 50.000 Pflegekräfte und Hebammen. Auch deshalb hat sich ein Rekord-Rückstau für geplante Operationen und Behandlungen im Krankenhaus gebildet: Derzeit warten landesweit etwa 6,6 Millionen Menschen.
Der Vorsitzende des Parlamentarischen Gesundheitsausschusses, der Konservative Jeremy Hunt, sagte, das Land solle grundsätzlich am steuerfinanzierten NHS festhalten. "Jedes Land wird mehr Gesundheitskosten haben, wegen der älter werdenden Bevölkerung und wegen neuer Behandlungsmöglichkeiten." In den USA würde man höhere private Beiträge zahlen, in Deutschland oder den Niederlanden mehr Beiträge zur Versicherung und in Großbritannien zum Beispiel mehr Steuern. "Damit wir uns das leisten können, brauchen wir eine gesunde, wachsende Wirtschaft."
Hunt, der im parteiinternen Wettbewerb um die Johnson-Nachfolge früh ausschied, fordert auch von der eigenen Partei, einen größeren Fokus auf den NHS und seine Probleme zu legen. Doch im parteiinternen Zweikampf der Konservativen um das Amt des Premiers und die Nachfolge von Johnson, sprechen die Kandidaten Rishi Sunak und Liz Truss derzeit kaum über den NHS, sondern allem über Steuersenkungen.
Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 05. August 2022 um 05:05 Uhr.